Refugees with Attitudes

Vor 10 Jahren: Flüchtlingsprotestcamp am Oranienplatz in Berlin

10 Jahre Protestcamp auf dem Oranienplatz… Kein Grund zum Feiern.

Redebeitrag von RWA zur Kundgebung am 9.7.2022 in Berlin

Wenn ihr mit Veranstaltungen und Texten an das Protestcamp auf dem Oranienplatz erinnert, dann erinnert euch genau!

Erinnert ( euch) an Mohammad Rahsepar!

Ende Januar 2012 nahm sich Mohammad Rahsepar im Würzburger Flüchtlingslager das Leben. Er hatte schon im Dezember Suizidgedanken geäußert. Ärzte hatten deshalb den zuständigen Behörden empfohlen, seine Unterbringungssituation zu verbessern. Er wollte zu seiner Schwester nach Köln, aber die Behörden lehnten das wegen der Residenzpflicht ab. Sein Tod war der Auslöser für eine Welle von Protesten in ganz Deutschland.

Seine Nachbar*innen im Lager und seine Freund*innen bauten ein Protestcamp auf der Straße auf, um auf ihre Situation aufmerksam zu machen: Lagerunterbringung, Gutscheinsystem, Residenzpflicht, Arbeitsverbot und ständige Ungewissheit. Ihr Protest weitete sich schnell auf viele Städte in ganz Deutschland aus. Auch hier in Berlin gab es ein Protestzelt auf dem Heinrichplatz.

Erinnert (euch) an die Residenzpflicht!

Die Residenzpflicht gibt es in keinem anderen europäischen Land. Ihre Ursprünge gehen zurück bis in die Kolonialzeit. Die Nationalsozialisten haben die Residenzpflicht in ihrer Polizeiverordnung von 1938 für Zwangsarbeiter zum Gesetz gemacht. 1982 nahmen die Gesetzgeber die Regelung wieder auf und hielten sie im Asylverfahrensgesetz für Asylsuchende fest.

Bis Ende 2014 mussten sich alle Asylsuchenden jedes mal, wenn sie ihren Landkreis verlassen wollten, dafür eine Erlaubnis bei der Ausländerbehörde holen. Manchmal bekamen sie eine Erlaubnis, meistens nicht. Ende der 90er Jahre haben die Behörden die Residenzpflicht benutzt, um Asylsuchende daran zu hindern, sich politisch zu engagieren. Bei jeder Demo, jedem Kongress und jedem Treffen mussten wir einen Umgang mit Kontrollen finden.

Ende 2014 wurde die Residenzpflicht für einen Teil der Asylsuchenden gelockert. Sie dürfen sich jetzt nach den ersten drei Monaten in Deutschland im ganzen Bundesgebiet erlaubnisfrei bewegen. Theoretisch jedenfalls. Denn es gibt zahlreiche Ausschlussgründe von dieser angeblichen „Bewegungsfreiheit“. Vor allem Flüchtlinge mit Duldung sind wie bisher der Behördenwillkür ausgeliefert. Die Ausländerbehörden können sie jederzeit an den Landkreis fesseln.

Die erste Demo gegen die Residenzpflicht war übrigens im Jahr 2000, organisiert von der ‚Karawane für die Rechte von Flüchtlingen und Migrantinnen‘. Seitdem haben viele Flüchtlingsselbstorganisationen, zum Beispiel ‚The Voice Refugee Forum‘ oder die ‚Flüchtlingsinitiative Brandenburg‘, gegen die Residenzpflicht gekämpft.

Wer über das Protestcamp auf dem Oranienplatz spricht, ohne die anderen Protestaktionen von Flüchtlingen im Jahr 2012 und die Vorgeschichte unserer Kämpfe zu erwähnen, solidarisiert sich nicht mit den Kämpfen von Flüchtlingen, sondern ignoriert uns.

Erinnert (euch) an den ‚Refugee Protest-March‘!

Im September 2012 startete eine Gruppe von Flüchtlingen den ‚Refugee Protest-March von Würzburg nach Berlin. Sie protestierten gegen die Residenzpflicht, indem sie die Residenzpflicht öffentlich verletzten und trugen ihren Protest zu den politisch Verantwortlichen nach Berlin. Am 5. Oktober 2012 – nach einem Monat und 600 km Fußmarsch erreichten sie Berlin.

Eine Gruppe von Aktivist*innen in Berlin unterstützte den Protestmarsch, indem sie das Camp auf dem Oranienplatz als Ort zum Ankommen vorbereitete. Das Camp war für einige Wochen geplant, um eine große Abschlussdemo zu organisieren und weitere Aktionen zu planen. Niemand von uns hat ein Protestcamp geplant, das über ein Jahr dauern sollte.

Erinnert (euch) genau! Der Oranienplatz war nie besetzt.

Immer wieder gab es Verhandlungen mit den Bezirksbürgermeister*innen, die dazu führten, dass der Oranienplatz weiter geduldet wurde. Wer behauptet, der Oranienplatz sei besetzt worden, ignoriert unsere Arbeit, die Arbeit der Aktivist*innen, die das Camp vorbereitet haben und jahrelang Verhandlungen geführt haben.

Zur Demo zum Abschluss des Protestmarsches am 13.10.2012 kamen viele aus ganz Deutschland, sie wurde richtig groß. Danach gab es unterschiedliche Ansätze für weitere Aktionen: Während eine Gruppe auf dem Pariser Platz einen Hungerstreik begann, blieben andere auf dem Oranienplatz und nutzten ihn als Ausgangspunkt für verschiedene Aktionen.

Im Winter 2012 kamen Flüchtlinge aus Italien dazu, für die das Protestcamp vor allem eim Ort zum Überleben war: Sie flohen vor Obdachlosigkeit, Hunger und Perspektivlosigkeit in Italien nach Berlin. Damit wurde der Oranienplatz ein Symbol für die Unmenschlichkeit und Grausamkeit der deutschen Asylpolitik und der EU-Asylpolitik.

Leider haben wir es nur bei einzelnen Aktionen geschafft, die verschiedenen Gruppen und Interessen der Flüchtlinge auf dem Oranienplatz zu verbinden. Das Asylsystem hat uns gespalten. Auch unter den Unterstützer*innen gab es Machtkämpfe und Spaltungen.

Erinnert (euch) genau! Der Oranienplatz wurde nicht von der Polizei geräumt.

Es waren Flüchtlinge, die die Zelte von anderen Flüchtlingen abräumten. Dem Senat war es – auch mit Hilfe sogenannter Unterstützer*innen – gelungen, die Flüchtlinge vom Oranienplatz zu spalten. Lasst uns aus den alten Fehlern lernen, statt sie zu wiederholen. Regierungen und Parlamente spalten uns mit ihrer rassistischen Migrationspolitik. Wir müssen uns dem entgegenstellen und noch enger zusammenwachsen.

Und zum Schluss: Erinnert euch daran, dass heute noch einige Flüchtlinge, die damals auf Oranienplatz waren, keine Aufenthaltserlaubnis haben!

Solange das so ist, gibt es für mich keinen Grund zu feiern.

10 Jahre Protestcamp auf dem Oranienplatz… Kein Grund zum Feiern.